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Theorie der Medizin

Was ist Theorie der Medizin?

Die Begriffe "Medizintheorie" und "Theorie der Medizin" sind gleichbedeutend.

Die Medizintheorie hat sich noch nicht als eine wissenschaftliche Disziplin etabliert. Sie wurde bisher nur von wenigen Wissenschaftlern an wenigen Universitäten betrieben [1]. Mit dem Wort ist noch keine klare Bedeutung verbunden. Es wird zwar hie und da, und dank der vor einigen Jahren erneuerten Approbationsordnung für Ärzte in der letzten Zeit immer häufiger verwendet. Es ist jedoch nicht allgemein bekannt, wer darunter was versteht und was vernünftigerweise darunter verstanden werden sollte. Diverse Bestrebungen, Anschauungen und Gedankengebäude, teilweise sogar Esoterisches, Absurdes und nachweisbar Unsinniges, werden mit diesem Namen versehen. Ich selbst habe in meinen Veröffentlichungen, Vorlesungen und Seminaren bereits seit 1970 zwischen:

unterschieden. Unter Medizintheorie im engeren Sinne verstehe ich die Wissenschafts- und Praxistheorie der Medizin:

Der erste Teil, die Wissenschaftstheorie der Medizin, umfasst die logisch-analytische und erkenntnistheoretische Untersuchung der medizinischen Sprache, des medizinischen Wissens, Forschens und Erkennens sowie die Methodologie davon. Und der zweite Teil, die Praxistheorie der Medizin, ist die logisch-analytische und handlungstheoretische Untersuchung des ärztlichen Handelns sowie die Methodologie davon. In diesem Sinne ist die Medizintheorie eine Tätigkeit, die Metatheorie, Erkenntnis- und Handlungstheorie sowie Methodologie und Logik der Medizin betreibt.

Medizintheorie im weiteren Sinne geht darüber hinaus. Sie enthält auch:

Der erste Teil, die Werttheorie der Medizin, umfasst die medizinische Ethik und Metaethik. Den zweiten Teil könnte man (mit Bezugnahme auf die bereits etablierte, empirische Forschungsrichtung Wissenschaftsforschung) als die Wissenschaftsforschung der Medizin bezeichnen. Somit haben wir, insgesamt gesehen, im Augenblick:

Allerdings lässt sich der ganze Begriff nur per Beschluss ("willkürlich") abgrenzen. Für eine detailliertere Abgrenzung ist jedoch hier, "das Internet", nicht der rechte Ort. Weitergehende Analysen und Ausführungen findet man in [2] (→ The Handbook in dieser Webseite). Ich möchte hier nur einen Gedanken äußern in der Hoffnung, dass die professionellen Medizinhistoriker ihn lediglich als eine persönliche Meinung von mir und als Anregung auffassen und darüber nachdenken möchten:

Man kann dem Konzept von Rothschuh und Toellner folgend nicht lediglich eine jeweils aktuelle Momentaufnahme der Medizin als "Die Medizin" betrachten, sondern die Medizin dank und im Verlaufe ihrer diachronen Dynamik als einen historischen Prozess auffassen und in Augenschein nehmen, dessen Erforschung sie Historische Medizin nennen (siehe [3]). Aus diesem Blickwinkel gesehen, wird die Medizingeschichtsforschung als eine Retrospektive der Medizin ein Teil der oben erwähnten Wissenschaftsforschung der Medizin und folglich ein Teil der Medizintheorie im weiteren Sinne, nämlich ihre historische Dimension. So erhalten wir schließlich den folgenden Begriff der Medizintheorie:

Für die mehr 'philosophischen' Teile der oben skizzierten Begriffsbestimmung findet man, insbesondere außerhalb des deutschen Sprachraums, auch die Ausdrücke "Philosophie der Medizin" und "Medizinphilosophie" im Gebrauch ("Philosophy of medicine"). Die Medizinphilosophie ist also kein Sonderbereich für sich, sondern Teil der Medizintheorie [4]. Davon zu unterscheiden ist die besondere Art der philosophischen Weltanschauung, die man aus der Betrachtung der Medizin und ihrer Sachverhalte sowie aus der Betrachtung der Welt "durch die Brille der Medizin" gewinnt; wie zum Beispiel ein Menschenbild, das uns die Medizin liefert (medizinische Anthropologie); die Ansicht, dass der menschliche Geist und das menschliche Bewusstsein Teile seines Körpers seien; oder die Erkenntnis, dass Gesundheit, Leiden und Krankheit Wertsachverhalte und keine Naturereignisse darstellen (siehe z.B. [2, 5, 6]). Diese medizinisch-philosophische Natur- und Weltanschauung könnte man mit einem eigenen Namen auch als Medizinische Philosophie bezeichnen ("Medical philosophy").

Anmerkungen:

  1. Ich selbst beschäftige mich damit bereits seit meiner frühen Studentenzeit in den 1960er Jahren und arbeite beruflich auf diesem Gebiete seit 1970. In der letzten Novellierung der Ärztlichen Approbationsordnung, die die Stoffgebiete und den Ablauf des Medizinstudiums und der ärztlichen Ausbildung ab dem Wintersemester 2003-2004 festlegt, ist zum ersten Male auch ein Wahlpflichtfach des Namens "Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin" aufgetaucht (GTE), das nunmehr gelehrt werden muss. Das Teilfach "Geschichte der Medizin" gab es bereits seit länger als 100 Jahren in der Forschung und seit den 1950er Jahren in der Lehre. Es kann daher auf diese reiche Erfahrung von Jahrzehnten zurückblicken und zurückgreifen. Aber die anderen beiden Teilfächer, Theorie der Medizin und Ethik der Medizin, sind im Curriculum wie aus dem Hut gezaubert worden. Sie werden daher noch eine lange Zeit auf qualifizierte Lehrmeinungen, Dozentinnen und Dozenten warten müssen. Ich möchte mit dieser allgemein zugänglichen Webseite dazu beitragen, dass diese Zeit möglichst kurz ausfällt.
  2. Sadegh-Zadeh K. Handbook of Analytic Philosophy of Medicine. Springer, 2012.
    http://www.springer.com/philosophy/epistemology+and+philosophy+of+science/book/978-94-017-9578-4
  3. Siehe Richard Toellners Vorlesung K.E. Rothschuh und die historische Medizin.
  4. Alle für das Gebiet existierenden Namen sind weder schön noch allgemeinverständlich oder ohne Vorbehalt akzeptabel. Wir müssen damit leben. Die metatheoretischen Namen "Medizintheorie" und "Theorie der Medizin" werden in der Regel dahingehend fehlgedeutet und missverstanden, dass man glaubt, es handle sich dabei um medizinische Theorien auf der Objektebene wie zum Beispiel die Theorie der Zelle, der Immunität oder der Krebsentstehung. Um diesem Missverständnis aus dem Wege zu gehen, prägte ich im Jahre 1977 den Namen "Metamedizin" und inaugurierte zunächst die Zeitschrift Metamed, die später in die internationale, englischsprachige Zeitschrift Metamedicine überging (damals D. Reidel/Dordrecht, später Kluwer/Dordrecht, heute Springer-Verlag). Auch dieser Name wurde jedoch trotz seiner genauen, dort erfolgten Definition missverstanden und missbraucht und als der Name einer neuen Alternativmedizin wie Homöopathie aufgefasst, weshalb ich den Namen der Zeitschrift im Jahre 1983 in Theoretical Medicine umändern musste (heute heißt sie: Theoretical Medicine and Bioethics, Springer-Verlag). Meines Wissens wurde der Begriff "Theoretische Medizin" zum ersten Male im Jahre 1935 mit quasi ähnlicher Bedeutung und Zielsetzung eingeführt und verwendet von Karl Eduard Rothschuh in seinem folgenden Artikel: Theoretische Medizin? Begründung ihrer Notwendigkeit in der Gegenwart und eine Umreißung des Gebietes. In: Klinische Wochenschrift 1935; 14: 1401-1405. Aber auch dieser Name hat sich inzwischen als ungeeignet erwiesen, so dass das kleinste der Übel, der Name "Medizintheorie", übrigbleibt.
  5. Sadegh-Zadeh K: Fuzzy health, illness, and disease. In: Journal of Medicine and Philosophy 25 (2000) 605-638.
  6. Sadegh-Zadeh K: The prototype resemblance theory of disease. In: Journal of Medicine and Philosophy 33 (2008) 106-139.