Die Methode der Medizintheorie
Eine praxisrelevante medizintheoretische Forschung benötigt Methoden, die dem Gegenstand angemessen und zieldienlich sind. Betrachten wir dazu zunächst zwei Beispiele:
1. Dieses erste Beispiel betrifft das Nachdenken über das ärztliche Handeln und seinen Kontext: Man möchte die ärztliche Urteilsbildung und ihren Kontext argumentations- und wissenschaftstheoretisch untersuchen, um das Rätsel der ärztlichen Fehlbarkeit, der Fehldiagnostik und der therapeutischen Irrtümer zu verstehen, zu klären, zu analysieren. Bei einer solchen Untersuchung wird man ohne eine hinreichende Portion Argumentationstheorie, und folglich ohne Wissenschaftstheorie und Logik, nicht auskommen. Denn nur auf diese Weise sind die Bestandteile, die Begründungsstrukturen und die Abläufe von ärztlichen Argumentationen im Umgang mit dem Homo patiens einer rationalen Analyse, Diskussion und Regelung zugänglich. Andernfalls wird man weder etwas Sinnvolles zustandebringen noch daher von informierten Leuten ernstgenommen werden können. Wir sind jetzt im einundzwanzigsten Jahrhundert und nicht mehr Zeitgenossen von Hippokrates, Paracelsus, Hegel, Nietzsche, Virchow oder Naunyn. Sie alle sind schon lange tot, ihre Argumentationsmethoden auch. Wer jetzt beispielsweise diese Zeilen hier im Internet liest, der weiß oder sollte es jedenfalls wissen, dass eben dieses Internet auch anspruchsvolle medizinische Expertensysteme beherbergt, die in Teilbereichen sogar korrektere diagnostisch-therapeutische Urteile erzielen als der Arzt. Wie war und wie ist das möglich? Es wurde ermöglicht durch eine logisch-systematische Grundlegung der klinischen Argumentation in diesen Computerprogrammen, die durch die Künstlichen-Intelligenzler geleistet worden ist. Sie haben eine präzise Begrifflichkeit geschaffen für Diskussionen über Fragen wie diese: Was ist eine Diagnose? Was ist die Bestätigung einer Diagnose? Was ist ein diagnostisches Urteil? Was ist ein diagnostischer Widerspruch? Usw. In der Medizintheorie wird man nicht hinter dieses bereits bestehende Niveau und Stadium der Forschung zurückfallen wollen, wenn man sich in der Gemeinde der Informierten nicht lächerlich machen will.
2. Dieses zweite Beispiel betrifft das Nachdenken über das medizinische Wissen, Forschen und Erkennen: Man möchte die Frage diskutieren, was eine medizinische oder biomedizinische Theorie sei, wie sie aussehe, wie man sie bilde, verteidige, anwende, entkräfte, widerlege, wie sie entstehe und vergehe usw. Da es sich dabei um eine metatheoretische Fragestellung handelt, empfiehlt es sich auch in diesem Falle, sich zunächst ein wenig umzuschauen, um herauszufinden, wie weit die Wissenschaft des Metatheoretisierens inzwischen gekommen ist, welche Theoriekonzepte sich zur Zeit in der Diskussion befinden und welche Instrumentarien ihre Handhabung voraussetzt. Man wird also äußerst vorsichtig sein müssen und nicht unbedingt wieder auf Hippokrates, Platon, Aristoteles oder Paracelsus und Virchow zurückgreifen. Sie alle sind, wie gesagt, schon lange tot, ihre Erkenntnis- und Theoriekonzepte sind es auch. Seit Joseph D. Sneeds Metatheorie [1, 2] sind fortgeschrittenere Theoriekonzepte und Methoden entstanden, die auch hier wieder es verbieten, vor neueren Entwicklungen die Augen zu verschließen und altertümlich zu denken und zu argumentieren.
Ein Instrument, das gröber als das zu bearbeitende Material ist, verfehlt dieses Material oder zerstört es gar, statt es zweckentsprechend bearbeiten zu lassen. Man kann nicht mit einem Preßssufthammer eine Zelle unter das Mikroskop schieben, um sie untersuchen zu wollen. Analog dazu müssen medizintheoretische Methoden feiner, sensibler und komplexer sein als ein so komplexes Gebilde wie zum Beispiel ein medizinisches Theoriennetz, das man entwirren und untersuchen möchte, oder als ein so komplexer Prozess und Kontext, wie das ärztliche Denken und sein Kontext nun einmal sind, die man verstehen und verbessern möchte. Eine ganze Menge von solchen metatheoretisch-methodologischen Analysewerkzeugen haben die wissenschaftstheoretisch-logischen Bemühungen der letzten Jahrzehnte geschaffen. Wir müssen sie nur kennenlernen und uns aneignen, um eine zeitgemäße Medizintheorie zu betreiben. Die weitverbreitete Vorliebe für das methodologische Vakuum gepaart mit einer pseudophilosophischen Geschwätzigkeit sind der größte Feind der Medizintheorie. Gott bewahre die Medizin vor dem, der sich damit brüstet.
Anmerkungen:
[1] Sneed JD. The Logical Structure of Mathematical Physics. Dordrecht: D. Reidel, 1971.
[2] Balzer W, Moulines CU. The Structuralist Theory of Science. Berlin: Walter de Gruyter, 1996.